OP vom 23.06.00 Beilage "Studier´mal Marburg" 7/8 2000

"Es kann der Bravste nicht in Frieden trinken..."

Jeweils der 1. Sonntag im Juli ist in Marburg und für alle, die in Marburg studiert haben, ein Datum besonderer Art: Seit Jahrzehnten fand an diesem Tag zwischen 11 und ca. 14 Uhr der traditionelle, von der Oberstadtgemeinde veranstaltete Marktfrühschoppen statt. 3.000 bis 5.000 Marburger/-innen nahmen in normalen Jahren daran teil - bei
gleichzeitigem Brunnenfest sogar bis zu 7.000 - und tranken friedlich miteinander ihr Bier. Einen bunten Akzent in der ausgelassenen Menge setzten dabei die Mitglieder der Marburger Korporationen, erkennbar an Farbenband und Mütze. Genau darüber erhitzten sich in den letzten Jahren die Gemüter derer, die meinen, dass von jener verschwindenden Minderheit unter den 18.000 Studierenden der Philipps-Universität, die einer der rd. 25 Studentenverbindungen am Ort angehören, die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik in Gefahr gebracht werde.

Sicherlich: Wer die deutsche Geschichte rückblickend kritisch analysiert, der kommt unweigerlich zu dem Ergebnis, dass es im Kaiserreich und in der Weimarer Republik meist Mitglieder von studentischen Korporationen waren, die in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft dominierten und dort auf Grund ihrer nationalistischen, antisozialen und antidemokratischen Einstellung einen verhängnisvollen Einfluss hatten und dadurch - das wissen wir heute - zu den Katastrophen von 1914/18 und 1933/45 sehr wesentlich beigetragen haben.

Niemand käme wohl auf die Idee, jemanden für das Fehlverhalten seiner Großväter oder gar Urgroßväter verantwortlich zu machen. Aber selbst wenn hier und da ein Enkel oder Urenkel ebenfalls als "schwarzes Schaf" erkennbar wäre, wäre es absurd, die ganze Familie zu verdammen oder gar ihretwegen eine allseits beliebte Veranstaltung in Frage zu stellen oder abschaffen zu wollen. Genau das aber wird seit 1995 beim Marktfrühschoppen versucht. Damals wurden erstmals aus dem Hinterhalt Farbbeutel geworfen, die aber nicht die bösen Korporierten trafen, sondern arglose Gäste aus Eisenach besudelten. Dann machten gewaltbereite Demonstranten massiven Polizeieinsatz zum Schutz der friedlichen Menge auf dem Marktplatz erforderlich. Im Bemühen um Deeskalation wurde vor zwei Jahren dem Marktfrühschoppen ein Multi-Kulti-Akzent gegeben, der aber wenig Anklang fand. Im vergangenen Jahr fand offiziell kein Marktfrühschoppen statt. In diesem Jahr haben die Stadtverordneten mit Mehrheit beschlossen, dass er künftig von der Stadt weder veranstaltet, noch unterstützt werden solle.

Inzwischen gibt es einen Bürgerverein, der zusammen mit den Wirten am Markt dafür sorgen will, dass am 2. Juli  alle Marburger/innen guten Willens bei Dixielandmusik ihr Bier trinken können. Radikale von Rechts ebenso wie von Links sind dabei völlig fehl am Platz. Und wenn die Marburger Stadtteilgemeinden vollzählig vertreten sind, dann wird deutlich, dass der Marktfrühschoppen ein echtes Bürgerfest ist.

Es wäre ja noch schöner, wenn wir uns in Marburg unseren Marktfrühschoppen zerreden und kaputtmachen ließen, wo man in Gießen und Frankfurt gerade entdeckt hat. Meint jedenfalls der Rathausgockel.

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